Ob Coffee-to-go Becher, Teflonpfanne oder Insektizide: all diese und viele andere Produkte können Industriechemikalien enthalten, die man zu den langlebigen organischen Schadstoffen (POPs) zählt. Durch die Stockholm Konvention, die im Jahr 2004 in Kraft trat, wurde ein globales Abkommen erzielt, um die Verwendung von zunächst zwölf, besonders gefährlichen POPs zu beenden. Viele Pestizide fanden sich unter diesen auch als „Dreckiges Dutzend“ bezeichneten Chemikalien, welche allerdings schon damals kaum noch wirtschaftliche Relevanz hatten. Weitere Verbote folgten. Doch die Industrie ist schnell, denn der Bedarf an Industriechemikalien, die unseren Produkten bessere Eigenschaften verleihen, ist groß.

Ersatzstoffe für gefährliche Substanzen kommen fortwährend auf den Markt, teils in wesentlich umfangreicheren Mengen. Mit welchen neuartigen Substanzen müssen wir heute rechnen?

Zweiter Teil des Gesprächs mit Prof. Dr. Ralf Ebinghaus, Leiter der Abteilung Umweltchemie am Helmholtz-Zentrum Geesthacht, Zentrum für Material- und Küstenforschung über neuartige Flammschutzmittel, polyfluorierte Verbindungen und andere bedenkliche, langlebige Substanzen. Teil 1 finden Sie hier.

Aus welchen Bereichen stammen die langlebigen organischen Substanzen, die Ihnen heute Sorgen machen?

Prof. Ralf Ebinghaus: Da kann man keinen Bereich herausgreifen. Die OECD sagt, dass ungefähr 100.000 chemische Substanzen in Umlauf sind. Das heißt mit so vielen Substanzen haben wir es täglich zu tun. Es gibt eine Abschätzung von der Europäischen Chemikalienagentur, dass ungefähr 1-3 Prozent davon problematisch sein werden. Uns als Gesellschaft wird das viel kosten.

Wir gehen davon aus, dass es ungefähr 50.000 Produkte im Pharmabereich mit circa 3.000 wirksamen Substanzen gibt. Dann haben wir den riesengroßen Bereich, von dem ich glaube, dass er unterschätzt wird: die Kosmetikprodukte. Kosmetika, Parfums, Duftstoffe etc. werden in riesigen Mengen eingesetzt. Wir haben relativ wenig Vorstellung davon, wie viele Substanzen das wirklich sind. Dann haben wir die Pestizide und Tenside, von denen es circa 800 Verschiedene gibt, und die Industriechemikalien, welche recht gut reguliert sind.
 

Gibt es Beispiele für neuartige POPs?

Prof. Dr. Ebinghaus: Ein Beispiel für neuartige, persistente organische Schadstoffe sind die Poly-und Perfluorierten Verbindungen, kurz PFCs. Jeder von uns ist vermutlich schon mal damit in Kontakt gekommen. Hier handelt es sich um oberflächenaktive Substanzen, die zum Beispiel in Outdoor-Bekleidung, in Coffee-to-go-Bechern, bei der Teflon Herstellung aber auch in Feuerlöschschäumen eingesetzt werden. Die beiden Leitsubstanzen (PFOS und PFOA) sind außerordentlich stabil und reichern sich extrem stark in der belebten Umwelt an. Man hat dann bei Robben in Ost-Grönland gesehen, dass die Konzentrationen um 8 Prozent pro Jahr im Körper ansteigen. Das ist gigantisch. Diese Verbindungen waren so persistent und so bio-akkumulativ, dass die PFOS innerhalb fünf Jahren verboten wurden.


Können Sie weitere Beispiele für Nachfolgeprodukte nennen?

Prof. Dr. Ebinghaus: Der Gesetzgeber schreibt beispielsweise vor, dass bestimmte Gebrauchsgegenstände wie Computerbildschirme, Fernseher, Möbel oder Gardinen eine gewisse Feuerfestigkeit haben müssen. Sie müssen also bei einem Brand eine bestimmte Zeit hohe Temperaturen aushalten, bevor sie selbst in Flammen aufgehen. Das erreicht man durch den Zusatz von sogenannten Flammschutzmitteln. Das wichtigste bromierte Flammschutzmittel ist bzw. war die Substanzgruppe der PBDEs. Diese Substanzen dürfen seit 2009 nicht mehr verwendet werden.

Aber der Bedarf ist weiterhin da, die Vorschriften zur Feuerfestigkeit von Konsumgütern haben sich ja nicht geändert. Also weichen die Hersteller auf nicht-regulierte alternative Flammschutzmittel aus. Das können ganz konkret zum Beispiel Organophosphorsäureester sein oder eine Verbindung wie das Dechloran Plus. Man zieht also eine zugegebenermaßen sehr problematische, aber eben recht gut untersuchte Gruppe von Substanzen aus dem Verkehr und ersetzt sie durch eine unüberschaubare Vielzahl von Ersatzstoffen, über deren Umweltrelevanz wir fast nichts wissen.


Sieht man sich die Funktionalität von Chemikalien an, welche ist dann aus Ihrer Sicht am kritischsten?

Prof. Dr. Ebinghaus: Mengenmäßig sind es auf jeden Fall die Flammschutzmittel. Wo wir Wissenschaftler aber wirklich noch erstaunt waren, war in welch‘ rasender Geschwindigkeit sich polyfluorierte Substanzen in der Umwelt anreichern. Das sind High-Performance Chemikalien, die zum Beispiel in der Textilindustrie eingesetzt werden. Hier stehen wir aber vor dem Problem: wer möchte nicht eine wasserdichte, schmutzabweisende aber gleichzeitig atmungsaktive Outdoorjacke haben?


Haben Sie diese bedenklichen Ersatzstoffe schon erforscht?

Prof. Dr. Ebinghaus: In eigenen Untersuchungen in meiner Abteilung für Umweltchemie konnten wir zeigen, dass sich auch die alternativen Flammschutzmittel großräumig verteilen und in der marinen und polaren Umwelt nachweisbar sind. DechloranPlus ist hierbei für mich ein besonders eklatantes Beispiel. Es wurde es nämlich als Ersatz für das hoch-wirksame Insektizid Mirex, welches mit der Stockholm Konvention verboten wurde, entwickelt. Wir haben es also mit einem 12-fach chlorierten cyclo-aliphatischen Insektizid zu tun, das heute als alternatives Flammschutzmittel verwendet wird. Und das einfach nur deshalb, weil es nicht reguliert ist. Aus Sicht eines Umweltchemikers ein kaum zu tragender Zustand.


Welche Untersuchungen gab es bereits zu diesem vermutlich umweltgefährdenden Flammschutzmittel?

Prof. Dr. Ebinghaus: In Zusammenarbeit mit dem AWI und dem Polar Research Institute of China konnten wir bereits nachweisen, dass DechloranPlus sich sowohl im Atlantik als auch im Pazifik überall in der Atmosphäre zwischen Arktis und Antarktis nachweisen lässt. Ich bin sicher, dass DechloranPlus keine geeignete Alternative als Flammschutzmittel ist, sondern eher wieder ein Kandidat für die Verbotsliste der Stockholm Konvention.
 

Wie viel Flammschutzmittel steckt denn durchschnittlich in den Produkten?

Prof. Dr. Ebinghaus: Flammschutzmittel (PBDEs) werden additiv zugesetzt. Das heißt sie gehen keine chemische Verbindung ein, sondern werden einfach beigemischt. Deshalb können sie eben auch leicht wieder freigesetzt werden. Bezogen auf das Gesamtgewicht eines Produktes sind das dann 5 bis 20 Prozent. Das ist wirklich richtig viel. Die Polyfluorierten Verbindungen, die wasser-, schmutz- oder fettabweisende Eigenschaften haben, werden als Beschichtung oder direkt an das Textilgewebe gebunden. Wenn wir nun Ersatzstoffe verwenden, dann haben sie nicht mehr diese ungewöhnlichen Eigenschaften. Dementsprechend müssen wir aber wesentlich mehr davon verwenden, um die gleiche Funktionalität zu erhalten.


Welche Trends beobachten Sie?

Prof. Dr. Ebinghaus: Wir sehen eine Auslagerung der Produktion, vor allem nach China. Es findet ein Ausweichen auf nicht-regulierte, vermeintliche Alternativen statt. Es sind Ersatzstoffe über deren Umweltverhalten wir aber fast nichts wissen.

Der Trend geht vielleicht auch dahin, dass wir eher polarere Moleküle finden. Sie sind im Prinzip eher etwas besser wasserlöslich, eher etwas besser abbaubar, aber wir sehen auch Ersatzstoffe, die sind strukturell ihren Vorläufern, die verboten wurden sind, komplett ähneln. Diese Substanzen werden sich hinsichtlich der Umweltproblematik kaum unterscheiden, obwohl es Ersatzstoffe sein sollen. Zum Beispiel bei den Flammschutzmitteln: Da haben wir das DechloranPlus. Als Chemiker schaut man auf das Molekül und gruselt sich. Es ist klar, dass diese Verbindung extrem schlecht abgebaut werden kann.

Herr Prof. Dr. Ebinghaus, wir danken für das Gespräch.

Das Interview führte ESKP - Jana Kandarr.

Zu Teil 1 des Interviews geht hier.
  Das vollständige Interview als PDF (500 KB).

Weiterführende Informationen

  Quante, M., Ebinghaus, R. und G. Flöser (2011): Persistent Pollution – Past, Present and Future. School of Environmental Research - Organized by Helmholtz-Zentrum Geesthacht. Link

  Heydebreck, F. et al. (2016): Emissions of Per- and Polyfluoroalkyl Substances in a Textile Manufacturing Plant in China and Their Relevance for Workers’ Exposure. Environmental Science Technology, 2016, 50 (19), pp 10386–10396. Link

  Sühring, R. et al. (2015): Maternal transfer of emerging brominated and chlorinated flame retardants in European eels. Science of the Total Environment 530–531. pp 209–218. Link

  Heydebreck, F. et al. (2015): Alternative and Legacy Perfluoroalkyl Substances: Differences between European and Chinese River/Estuary Systems. Environmental Science Technology, 2015, 49 (14), pp 8386–8395. Link

  Sühring, R. et al. (2013): Brominated flame retardants and dechloranes in eels from German Rivers. Chemosphere. 90(1). pp 118-24. Link

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