Mögliche negative Folgen für Mensch und Umwelt durch die stetig steigenden chemischen Produktionen abzuwenden, erfordert eine solide wissenschaftliche Basis und kontinuierliche Forschung. Mit Hilfe grundlagenorientierter Umweltchemie und Ökotoxikologie sollen Prognosen möglich sein, die zum Nutzen für Mensch und Umwelt führen.
Bislang werden Umweltchemie und Ökotoxikologie vor allem als Kostenfaktor wahrgenommen. Geld steht dann zur Verfügung, wenn Katastrophen bereits aufgetreten sind. Die Angst der Öffentlichkeit nach dem Seveso-Unfall (Chemieunfall 1976 nahe Mailand) oder Ölunfällen verhalf der umweltchemischen und ökotoxikologischen Forschung zu einem finanziellen Schub. Mit nachlassendem öffentlichem Interesse lässt aber auch die Förderung nach. Die fehlende Kontinuität auf diesem Gebiet ist kontraproduktiv zum Anspruch, Chemikalien systematisch umweltgerechter zu machen und schädliche Wirkungen von vornherein vermeiden zu wollen. Doch kontinuierliche und systematische Forschung wird angesichts vieler Fakten und Tatsachen unumgänglich sein.
65 Millionen Chemikalien sind heute weltweit bekannt. 100.000 synthetisch hergestellte Stoffe sind allein in Europa als Industriechemikalien im Einsatz. Hinzu kommen tausende Wirkstoffe in Pflanzenschutzmitteln, Pharmaka und Bioziden, in Wasch- und Reinigungsmitteln, Lebensmittelzusatzstoffen und Kosmetika sowie die Transformations- und Reaktionsprodukte all dieser Stoffe in der Umwelt. Die chemische Produktion wird in den kommenden Jahren besonders in den Entwicklungsländern expandieren. Welche Folgen das für Lebewesen und die Qualität der Umweltressourcen wie Luft, Wasser und Boden hat, wie sich die Folgen managen oder vermeiden lassen, wird nur mit einer soliden wissenschaftlichen Basis zu beantworten sein.
Umweltchemie und Ökotoxikologie – zwei junge Wissenschaftsdisziplinen
Diese Aufgabe ist für die beiden noch jungen Wissenschaftsdisziplinen Umweltchemie und Ökotoxikologie eine große Herausforderung. Nach dem Zweiten Weltkrieg boomte die chemische Industrie und die Sorge um schädliche Einflüsse von chemischen Substanzen auf die Umwelt wuchs. Ende der 1960er Jahre begannen die ersten Umweltschutzdiskussionen. Vor diesem Hintergrund entstanden die beiden Wissenschaftsdisziplinen Umweltchemie und Ökotoxikologie als interdisziplinärer Mix aus Chemie, Biologie und Toxikologie.
Die Umweltchemie beschäftigt sich mit der Ausbreitung, der Umwandlung und dem Verbleib chemischer Substanzen aus natürlichen und anthropogenen Quellen im Hinblick auf die belebte und unbelebte Umwelt. Sie entwickelt wissenschaftliche Strategien und Konzepte, um das Auftreten und Verhalten von Chemikalien in den verschiedenen Umweltmedien frühzeitig zu erkennen, zu bewerten und möglichst zu vermeiden. In der Ökotoxikologie stehen die Auswirkungen von chemischen Stoffen auf die belebte Umwelt – also die Wirkung auf und die Gefährdung von unterschiedlichen Organismen – im Mittelpunkt. Beide Disziplinen sind eng miteinander verzahnt und zudem mit anderen Wissenschaftsdisziplinen wie der Biologie, der Ökologie, der Hydrologie, den Agrarwissenschaften, der Chemie oder der Toxikologie eng vernetzt.
Dringender Handlungsbedarf
Die gesellschaftliche und praktische Relevanz der Disziplinen wird zunehmen. Bevölkerungs- und Konsumwachstum und damit einhergehender wachsender Nahrungs-, Ressourcen- und Energiebedarf werden dazu führen, dass auch mengen- und zahlenmäßig mehr chemische Stoffe produziert und entsorgt werden. Das macht nationale und internationale Rahmenbedingungen erforderlich, um die Umwelt vor den unerwünschten Wirkungen dieser Stoffe zu schützen. Beurteilungen und Managementmaßnahmen lassen sich jedoch nur dann fundiert treffen, wenn sie wissenschaftlich untersetzt sind. Die Wasserrahmenrichtlinie (WRRL) und die europäische Chemikalienregulierung REACH (Registration, Evaluation, Authorisation and Restriction of Chemicals) sind dafür zwei gute Beispiele. Denn beide sind ohne eine effiziente Risikobewertung von Chemikalien nicht umsetzbar.
Beispiel Wasserrahmenrichtlinie: Inzwischen haben zwar 90 Prozent der Flüsse und Seen Deutschlands den laut WRRL geforderten guten chemischen Zustand. Den notwendigen guten ökologischen Zustand schaffen hingegen nur etwa 10 Prozent der Oberflächengewässer. Dieser Befund könnte Glauben machen, dass heute kaum noch Gefahren von Chemikalien ausgehen. Allerdings sind die standardmäßig für die Beurteilung der Wasserqualität zugrunde gelegten 30 Stoffe heute kaum noch im Einsatz oder sogar lange verboten. Demgegenüber werden tausende von Stoffen, die aktuell in Mikromengen und als Mixturen in die Gewässer gelangen, toxikologisch bislang nicht beurteilt. Hier sollte der Frage nachgegangen werden, ob auftretende Stoffmixturen andere Wirkungen haben als die einzelnen Substanzen. Solche Vermutungen können nur mit einem neuen Forschungsansatz, der chemische und wirkungsorientierte Analytik geschickt miteinander verknüpft, geprüft werden. Die große Bandbreite und enge Verzahnung verschiedener Disziplinen am Umweltforschungszentrum (UFZ) bieten dafür ausgezeichnete Voraussetzungen.
Beispiel Chemikalienregulierung: REACH verpflichtet Hersteller oder Importeure, gefährliche Eigenschaften von Industriechemikalien und Naturstoffen zu ermitteln, deren Wirkungen auf die Gesundheit und die Umwelt abzuschätzen und darüber zu informieren. Das gilt für Stoffe, die neu auf den Markt gebracht und gehandelt werden sollen und für schätzungsweise 30.000 Altchemikalien, die bereits vor 1981 in Mengen von einer Tonne und mehr pro Jahr auf den Markt gekommen sind. Mit REACH sollen Chemikalien von der Produktion über den Verbrauch bis zur Entsorgung sicher werden. Um die human- und umwelttoxikologischen Eigenschaften der Chemikalien zu ermitteln, sind allerdings sehr häufig noch Tierversuche notwendig. Am UFZ verfolgen daher verschiedene Teams das Ziel, Standardtestprogramme in der Umweltrisikobewertung von Chemikalien, die auf Tierversuchen basieren, durch intelligente Teststrategien zu ersetzen. Durch den Einsatz von alternativen Testverfahren und theoretischen Prüfmethoden kann das Ziel, trotz wachsender Zahl von Chemikalientests Tierversuche zu reduzieren, erreicht werden. Als hoffnungsvolle und kostengünstige Ansätze gelten sowohl experimentelle in vitro-Tests als auch computerbasierte Modelle (QSAR, Quantitative or Qualitative Structure-Activity Relationships) und Entscheidungshilfen (read across Verfahren).
Was, wenn Chemikalien bereits in der Umwelt sind?
Bis zum Ziel, Chemikalien und deren Lebenszyklen hinsichtlich ihrer Umwelteigenschaften bereits optimiert zu entwickeln, liegt noch ein weiter Weg vor Wissenschaft, Industrie und Politik. Das gilt auch für die Identifizierung von Chemikalien, die sich bereits in der Umwelt befinden und die eine Sanierung von kontaminierten Standorten erforderlich machen. Wie können Schadstoffe aus Böden oder Gewässern entfernt werden? Unter welchen Bedingungen sind Ökosysteme selbst in der Lage, die Dienstleistung "Schadstoffabbau" für den Menschen zu erbringen? Wie können diese Abbauleistungen von Mikroorganismen nutzbar gemacht oder unterstützt werden? Wo sind innovative physikalisch-chemische Lösungen notwendig? Antworten auf diese Fragen erfordern Feldversuche, da die Überführung von guten umwelttechnologischen Lösungen aus dem Labor in marktreife Technologien dies erfordern. Auch dafür existieren am UFZ mit Pilotanlagen und Forschungsplattformen wie beispielsweise TERENO (Terrestrial Environmental Observatories) hervorragende Voraussetzungen.
Und was, wenn der Mensch betroffen ist?
Wenn Chemikalien unerwünschte Nebenwirkungen in der Umwelt verursachen, ist oft auch der Mensch betroffen, denn er ist Teil der Umwelt. Menschliche Reaktionen auf Umweltstressoren werden häufig über das Immunsystem vermittelt. Deshalb wird im Rahmen der Gesundheitsforschung am UFZ untersucht, wie Umweltchemikalien auf Zellen des menschlichen Immunsystems wirken und zu umweltbedingten Krankheiten wie Allergien beitragen. Dabei gewinnt in der Forschung die Systembiologie an Bedeutung. Diese vereint Biologie, Mathematik und Physik in experimentellen und modellbasierten Ansätzen, um biologische Prozesse in Zellen, Geweben und Organismen als Ganzes zu verstehen und mit diesem Wissen Präventionsstrategien zu entwickeln.
Mit dem Kernthema "Chemikalien in Umwelt und Gesundheit" wollen die UFZ-Forscher dazu beitragen, dass Chemikalien ökokompatibel werden und Mensch und Umwelt geschützt werden.
Weitere Informationen zum Thema "Europäische Gewässer stärker durch Chemikalien belastet als bislang angenommen" können Sie in der Pressemitteilung des Umweltforschungszentrum vom 16. Juni 2014 nachlesen.
Ein Interview mit Herrn Dr. Altenburger können Sie im Podcast nachhören.