Sommerzeit ist Urlaubszeit. Viele tausende Urlauber sind wieder mit dem Zug oder Auto in den Schweizer Alpen unterwegs. Sie wähnen sich in Sicherheit und freuen sich auf unbeschwerte Tage. Dem aufmerksamen Betrachter entgehen jedoch nicht die unzähligen Metalldrähte, die in den Klippen entlang der Bergstraßen und -trassen verankert sind und vor Steinschlag schützen sollen. Gewaltige Abgänge von Erdmassen und Geröll kennt man meist aus Asien und Südamerika. Ab und zu stürzt auch in Europa ein imposanter Kreidefelsen medienwirksam ins Meer. Mehr nimmt der Laie in der Regel von Erdrutschen kaum wahr. Doch allein der geschätzte wirtschaftliche Schaden summiert sich in Europa auf mindestens circa 4,7 Milliarden Euro – wohlbemerkt pro Jahr. Und kaum jemand weiß: Der europäische Kontinent ist wie kein anderer davon wirtschaftlich getroffen. Auf circa 8.000-20.000 km des europäischen Straßen- und Eisenbahnliniennetzes können Hänge potentiell rutschen, kann Geröll in die Tiefe gerissen werden. Menschen können dabei tödlich verunglücken, ähnlich wie kürzlich in der Provinz Sichuan in China.

Spätestens auf dem Weg nach Italien kurvt der Reisende durch eines der gefährdetsten Länder. Die Menschen siedeln auch hier immer dichter und Hanglagen sind begehrt. Damit steigt auch die Bevölkerungsdichte in traditionellen Erdrutsch gefährdeten Gebieten, mit teils weitreichenden Folgen. Mehrere fast zeitgleiche Erdrutsche bei Sarno, unweit von Neapel, im Jahr 1998 begruben fast 160 Menschen. In der Region Campania, zu der auch das Städtchen Sarno gehört, wurden in Italien historisch die meisten Erdrutsche gezählt. Die Region ist zugleich das Epizentrum des illegalen Häuserbaus und der Brandrodung. Insgesamt leben circa 1,3 bis 3,6 Millionen Europäer dort, wo das Abrutschen von Boden oder Fels wahrscheinlich ist, Tendenz steigend. So erwies sich nach Unter­suchungen des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) der jüngste Zeitraum, auch als der mit den meisten Todesopfern.

Wichtige Daten fehlen auf europäischer Ebene oder werden unzureichend erfasst

Der Großteil der Daten zu Erdrutschen wird von vielen europäischen Ländern unter Verschluss gehalten und ist schon gar nicht länderübergreifend verfügbar. Informationen werden meist ausschließlich in der Landessprache und häufig nicht mit ausreichender Informationstiefe in nationale oder internationale Datenbanken eingepflegt. Vollständig ist eine Datenbank zu Erdrutschen, laut EU-Experten, wenn sie unter anderem Auskunft über Umweltfaktoren wie der Lithologie, d.h. die mineralische Zusammensetzung und Textur des Gesteins, die Hydrogeologie oder aber die Landnutzung zum Zeitpunkt des Erdrutsches, gibt.

Um Schlüsse für die Zukunft zu ziehen, werden Informationen benötigt, die den Hang charakterisieren, dessen Handgradient, die Hangausrichtung und Hangkrümmung sowie dessen Durchfeuchtung ausweisen. Die Dimension des Erdrutsches muss umrissen werden. Hierzu sollte das Volumen der bewegten Erdmassen sowie der Winkel in dem Erdmassen abgingen, die Länge, Breite, Höhe des Erdrutsches bzw. Tiefe des Einschnittes in die Oberfläche ermittelt werden.

Zeitliche und räumliche Informationen bestimmen die Aktivitätsklasse des Erdrutsches, mit welcher sich wiederum die Wahrscheinlichkeit für zukünftige Erdrutsche besser abschätzen lässt. Die unmittelbaren Folgen wie z.B. Entstehung von Dämmen oder Tsunamis sollten mitregistriert werden. Wiederholt treten Erdrutsche auch in der gleichen Region oder Stelle auf. Diese Reaktivierung ist ein weiteres wichtiges Merkmal für Wissenschaftler.

Die Erdrutsch auslösenden Faktoren sind sicherlich die wertvollsten Informationen, doch nur selten im Nachhinein zu beschaffen. Dazu zählen auch Niederschlag oder die Erdbebenstärke. Denn Beben oder aber auch Niederschläge sind Hauptauslöser für Erdrutsche. Das muss nicht immer Starkregen sein, sondern auch der Regen, der über einen längeren Zeitraum fällt und den Boden mit Wasser sättigt und ihn damit schwerer macht. Dies erhöht den Wasserdruck und begünstigt langfristig auch die Verwitterung. Auch die Schneeschmelzen reißen Erdmassen mit sich. Als mögliche Ursachen kommen zudem plötzliche Änderungen des Grundwasserspiegels in Frage. Es müssen im Idealfall eine Menge Daten erhoben werden. Von einer länderübergreifenden Datenbank, die diese Daten vollständig aufzeigt und auswerten kann, ist die EU jedoch noch weit entfernt.

Erstmals umfassende Datenbank mit tödlichen Rutschungen in Europa

Für 27 europäische Länder hat ein Team um Prof. Dr. Philipp Blum am KIT und Dr. Ubydul Haque von der University of Florida erstmals alle europäischen Erdrutsche mit Todesfolge in einer Datenbank zusammengeführt und mit weiteren Faktoren wie Schadenshöhe verschränkt. Trends und Hot Spots zu identifizieren war Ziel der Forscher. Um die Datenbank ELS-DAT (European Landslide Database) aufsetzen zu können, mussten die Wissenschaftler regelrecht journalistisch investigativ vorgehen, d.h. bei lokalen Behörden nachfragen, alte Zeitungsberichte durchforsten oder Notrufe von Feuerwehren auswerten. Digitale Höhenmodelle lieferten ihnen weitere Hinweise.

Aktuell enthält die Datenbank 476 Erdrutsche mit Todesfolge für einen 20 Jahreszeitraum (1995-2015). Mindestens 1.370 Tote und 784 Verletzte waren in Europa zu beklagen. Juli ist historisch gesehen der Monat mit der größten Anzahl von Erdrutschen mit Todesfolge in Europa, ohne dass sich daraus jedoch eine Wahrscheinlichkeit ableiten lässt. In der Türkei mussten die meisten Menschen bei Erdrutschen ihr Leben lassen (336 Toten), gefolgt von Italien mit 250 Toten, Portugal (100 Tote) und Russland (69 Tote).

Die Auswertungen des KIT zeigen: Todesfälle waren vor allem in den Bergregionen mit warmem gemäßigten Klima zu verzeichnen, so im Nordosten der Türkei, im südlichen Russland, Georgien, Italien, Bosnien, Mazedonien, Spanien, Österreich und der Schweiz. Im Februar zeigt sich eine Häufung, da die Schneeschmelze einsetzt. Die Häufung von tödlichen Rutschungen zwischen April und Juli kann durch die teils höheren Niederschlagsmengen erklärt werden. Der Norden von Italien verzeichnet, unter Umständen auch dem Klimawandel geschuldet, inzwischen immer höhere Niederschläge. Hier zeigt sich auch ein zunehmender Trend zu Erdrutschen.

Italien - das ökonomisch am schwersten betroffene Land der Welt

Der ökonomische Schaden jedoch ist mit 3,9 Milliarden Euro in Italien weitaus am größten. Mehr als eine halbe Million Erdrutsche auf einer Fläche von mindestens 22.176 km2 wurden seit 1950 von italienischen Behörden erfasst. Knapp ein Zehntel des Hügel- und Berglandes waren in der Vergangenheit betroffen. Italien nimmt damit sogar weltweit eine ungewünschte Spitzenposition ein: Das Land stemmt jährlich die größten Kosten im Verhältnis zum Bruttosozialprodukt (0,2%). Diese berechneten Geldwerte stammen aus Daten, die Versicherungen ermittelt haben. Welche Zusatzausgaben die staatliche Seite zu tragen hat, kann im Nachhinein kaum beziffert werden.

Einer der Gründe für die Gefährdung liegt auf der Hand. Fast ganz Italien ist seismisch aktiv. Bebt die Erde, dann ist die Tendenz zu Erdrutschungen größer je näher das Gebiet am Epizentrum liegt. Die Gefahr nimmt in der Regel exponentiell ab, je weiter das Epizentrum entfernt ist. Seismische Wellen können allerdings durch das lokale Relief gebündelt werden, sodass Rutschungen an Stellen auftretenkönnen, wo die Wellen zusammenlaufen. Nach einem Erdbeben treten Hangrutschungen erfahrungsgemäß wesentlich häufiger auf. Erst nach Monaten bzw. Jahren setzen sich die Erdmassen wieder und die Wahrscheinlichkeit fällt auf das ortsübliche Risiko zurück.

Die Vorhersage von Massenbewegungen wie Erdrutschen und Steinschlägen ist schwierig, weil jeweils nur wenige direkte Beobachtungen vorliegen. Räumlich verteilte Seismometer, die das Aufschlagen von Gesteinsbrocken spüren sowie Videoaufnahmen könnten hier Abhilfe schaffen. Auch Datenbanken und historische Erfahrungswerte sind aufschlussreich, denn selten wird nur ein einzelner Hang instabil. Meist sind es zeitgleich mehrere Hänge in der Umgebung.

Auslösende Faktoren frühzeitig erfassen

Zeitnah zum Ereignis müssten zukünftig die auslösenden Faktoren für Erdrutsche in standardisierten Datenbanken aufgenommen werden. Im Nachhinein ließen sich diese nur für 14% der Erdrutsche in der Erhebung des KIT zuverlässig bestimmen. Indizien früher abgelaufener Prozesse sind keine zuverlässigen Wegweiser. Die bestehenden Datenbanken müssten angepasst werden. So enthält nur knapp ein Viertel der nationalen Datenbanken überhaupt das Datum des Erdrutsches. Darüber hinaus hat jeder einzelne Erdrutsch unterschiedliche Charakteristika.

Da Hangrutschungen oft in Verbindung mit anderen Ereignissen auftreten, werden sie in den Statistiken systematisch unterschätzt. Der zunehmende Trend zu Erdrutschen an einigen Hot Spots in Österreich, Italien und der Türkei muss zudem noch genauer untersucht werden. Die Schätzung eines Risikos lässt sich aus den Zahlen des KIT noch nicht ableiten, zumal die jetzt zur Verfügung stehenden Zahlen eher konservativ sind. Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass die tatsächliche Zahl tödlicher Erdrutsche und Gesteinsschläge noch wesentlich höher ist.

 

In Deutschland ist das Risiko mit 15 Todesopfern relativ gering. Gefährdete Gebiete befinden sich vor allem in den Alpen, aber auch auf der schwäbischen und fränkischen Alb, sowie entlang der Steilküsten der Nord- und Ostsee. Nichtsdestotrotz, bildet diese neue Datenbank eine perfekte Grundlage, um sowohl die auslösenden Prozesse zu erforschen als auch neuartige Frühwarnsysteme für solch tödliche Naturkatastrophen zu entwickeln, um somit nicht nur einen monetären Schaden abzuwenden, sondern vor allem uns Menschen in Europa zu schützen. 


Text: ESKP - Jana Kandarr, fachliche Durchsicht und Ergänzungen: Prof. Dr. Philipp Blum

Quellen und weiterführende Informationen

  Alimohammadlou, Y., Najafi, A., Yalcin, A. (2013): Landslide process and impacts: A proposed classification method. CATENA 104. pp 219-232. Link

  Deutsches GeoForschungsZentrum (2017): Hangrutschungen und Massenumlagerungen. Landslides and mass wasting. Fokus Erde: von der Erdvermessung zum System Erde. Berlin, München: Deutscher Kunstverlag. pp 240-242.

  Europäische Commission/ Van Den Eeckhaut, M., Hervás, J. (2012): Landslide inventories in Europe and policy recommendations for their interoperability and harmonization. A JRC contribution to the EU-FP7 SafeLand project. Luxembourg: Publications Office of the European Union. PDF

  Haque, U., Blum, P., da Silva, P.F. et al. (2016): Fatal landslides in Europe. Landslides 13(6). pp 1545-1554. Link

  S., Brunetti, M. T., Gariano, S. L., Melillo, M., Rossi, M., and Guzzetti, F. (2017): Rainfall thresholds for possible landslide occurrence in Italy. Geomorphology 290. pp 39-57. Link

 Bundesanstalt für Geologie - Österreich

  New York Times: Italien town buries 90 after mudslide, 11. Mai 1998

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