Diplom-Meteorologe Bernhard Mühr vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) ist als Wetterberater für einen großen deutschen Automobilhersteller beim Motorsport-Klassiker in den belgischen Ardennen tätig. Zum 68. Mal wird das Autorennen am 30. und 31. Juli 2016 ausgetragen. Unterstützt wird er bei seiner Arbeit durch Studenten der Meteorologie des KIT, die die Aufgabe als Feldpraktikum absolvieren. Die Verantwortung ist für die Nachwuchswissenschaftler dabei enorm hoch.
Die falsche Reifenwahl kann im Motorsport entscheidende Folgen haben. Die profillosen Slick-Reifen garantieren bei trockenem Untergrund schnellere Rundenzeiten, bei feuchtem oder gar nassem Asphalt kann das Rennen für die Piloten aufgrund fehlender Haftung (Grip) dagegen ein schnelles Ende finden. Die wichtigen Fragen lauten deshalb: Wie lange bleibt es noch trocken? Wann setzt der Regen ein, wird die Fahrbahn nur feucht oder richtig nass und wie schnell ändert sich die Witterung?
Nach wie vielen Runden müssen Regenreifen aufgezogen werden, wann wirbeln die Fahrzeuge Wasser auf („Spray“)? Wann hört es auf zu regnen, wie schnell trocknet die Strecke wieder ab? „Die Kenntnis der genauen Fahrbahnverhältnisse und mehr noch deren Änderung während der nächsten Minuten oder Stunden kann einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil bringen“, sagt Bernhard Mühr. Zudem sind Fahrerwechsel bei diesem Langstreckenrennen in bestimmten Zeitintervallen vorgeschrieben. Eine perfekte Abstimmung mit den witterungsbedingten Reifenwechseln erhöht die Siegchancen für ein Team.
Der präzisen Prognose des Niederschlags und der Fahrbahnverhältnisse kommt deshalb eine große Bedeutung zu, allerdings spielen auch andere Wetterparameter eine Rolle, die die Performance der Fahrzeuge beeinflussen. Dazu gehören die Asphalttemperatur und der richtige Reifendruck, die Kenntnis des Luftdrucks, der Luftdichte und der Lufttemperatur. Darüber hinaus können Windgeschwindigkeit und -richtung bei Überholmanövern von Bedeutung sein.
Wetterprognosen, Messdaten, Radarbilder und der ständige Blick zum Himmel
Für die Vorhersagen nutzen Mühr und seine Studenten vom KIT unterschiedliche Modellprognosen, aktuelle Messdaten, Satellitenbilder und vor allem Niederschlagsradarbilder, die von verschiedenen Einrichtungen und Wetterdiensten zur Verfügung stehen. "An der Augenbeobachtung des Wettergeschehens führt jedoch kein Weg vorbei“, sagt Mühr. Entwickelt sich aus einer in die Höhe schießenden Quellwolke in Kürze ein Schauer oder ein Gewitter? Verstärkt sich ein Schauer, kommt es zu Neubildungen, zeigt er Auflösungstendenzen, fallen nur einzelne Tropfen? Führt ihn die Verlagerungsrichtung genau auf die Rennstrecke zu, wann kommt er dort an? Weist ein leichter Grauschleier am Horizont möglicherweise auf fallenden Niederschlag hin oder nicht?
Der fachkundige Blick an den Himmel und auf das Wolkenbild, die Beobachtung ihrer Entwicklung, ihre Zugrichtung und Geschwindigkeit, der Änderung ihrer Form und Farbe, all das kann kein Radarbild leisten. Ein Radarbild zeigt nur bereits fallenden Niederschlag an, nicht aber, ob eine Quellwolke das Potenzial hat, zu einer Schauer- oder Gewitterwolke heranzureifen und wie schnell sie das tut. In der persönlichen Einschätzung und Bewertung dieser Vorgänge, in der sogenannten Kürzestfristvorhersage, besteht die besondere Herausforderung dieser Arbeit.
Die Studenten lernen nicht nur, das in Vorlesungen theoretisch erworbene Wissen direkt in die Realität zu übertragen, sie tragen zudem eine große Verantwortung. Die Rennteams verlassen sich auf die meteorologischen Aussagen. Fehlprognosen können deshalb schnell über Sieg oder Niederlage entscheiden. Teamgeist, organisatorisches Geschick, Begeisterungsfähigkeit, gute Nerven bei der Arbeit unter Zeitdruck, Entschlusskraft und nicht zuletzt körperliche Belastbarkeit bei durchgehender 24-stündiger Arbeit – Anforderungen, denen das Team vom KIT ebenfalls genügen muss. Es liegt auf der Hand, dass nicht jeder Student diese Voraussetzungen, den nötigen Enthusiasmus und exzellente Vorkenntnisse mitbringt. Mühr hat jedoch jedes Mal eine tolle Truppe zusammengestellt, die hervorragende Arbeit leistet.
Schon Tage vor dem Rennen beginnt die Arbeit der Meteorologen
An den Rennstrecken umfasst die Wettervorhersagetätigkeit nicht nur das Rennen selbst, sondern auch die an den Tagen zuvor stattfindenden Trainingsläufe und Qualifizierungen. Mühr fungiert dabei während der Läufe in der Box als ständiger Ansprechpartner für Fahrer und Renningenieure sowie die Teamchefs. Die Studenten bilden unter seiner Leitung mobile Außenteams, die rund um die Strecke beständig die Wetterentwicklung im Blick haben, rasche Standortwechsel erleichtern oder bestätigen ihnen gegebenenfalls eine Entscheidung. Für die Außenteams ergibt sich zusätzlich die Schwierigkeit, einerseits einen Standort mit guter Übersicht und Fernblick zu finden, der andererseits gleichzeitig über hinreichenden Internetempfang verfügt - in den waldreichen und von vielen Tälern durchzogenen Ardennen kein leichtes Unterfangen. Alle Beobachtungen und Überlegungen müssen rasch in klare Anweisungen münden, die von Mühr ohne Zeitverzug den Rennteams persönlich oder per Funk mitgeteilt werden.
Speziell der sieben Kilometer lange und kurvenreiche Kurs in den Ardennen stellt die Meteorologen oftmals vor besonders große Herausforderungen. „Spa ist für sein wechselhaftes Wetter bekannt. In dem 400 bis 600 Meter hohen Mittelgebirge kann die ganze Wetterpalette innerhalb nur eines Tages auftreten, von Sonnenschein und Hitze über heftige Gewitter mit Überschwemmungen bis hin zu Nebel, Kälte und Nieselregen. Einer möglichst exakten Wettervorhersage kommt da eine entsprechend große Bedeutung zu“, sagt Mühr.
Wettervorhersage auf höchstem Niveau bei internationalen Großsportereignissen und im professionellen Umfeld der Rennteams eines Top-Automobilherstellers, am besten noch für das hoffentlich siegreiche Team – viele Studenten haben diese Gelegenheit nicht. Auch in den Vorjahren konnten sie einen Einblick in die Welt des Automobilrennsports bekommen und Erfahrungen sammeln, wie anstrengend, verantwortungsvoll und facettenreich die Tätigkeit eines Meteorologen sein kann.
Der Erfolg oder Misserfolg einer Wettervorhersage oder eines Niederschlagsereignisses steht immer recht schnell fest; auch wenn das Wetter in den Ardennen immer ein paar Überraschungen bereit hält, kam es bislang zu keinen entscheidenden Fehlprognosen.
Die Studenten verfügen bereits im Vorfeld über viel Erfahrung bei Wettervorhersagen. Minutengenaue Niederschlagsprognosen bedeuten jedoch für alle Teilnehmer eine neue und ungewohnte Herausforderung, der sich alle zu stellen haben. Es kommt gleichermaßen auf Diskussionsbereitschaft und Entschlusskraft an. Ein „vielleicht“, „könnte“ oder „teilweise“ - Begriffe wie wir sie heute in jedem Wetterbericht finden - darf es nicht geben. Klare und eindeutige Anweisungen sind gefragt, am Ende steht ein „ja“ oder „nein“.
Die individuelle Beurteilung, Sichtweise und Vorhersage der Wetter- und Niederschlagsentwicklungen und die gemeinsame Diskussion darüber führt bei allen zu einem tieferen und teilweise neuen Verständnis der Vorgänge in der Atmosphäre. Die unter anderem durch Bernhard Mühr im Rahmen des Studiums vermittelte Theorie kann unmittelbar in die Praxis übertragen und angewendet werden. Trotzdem gelangt das gesamte Team manchmal auch an die Grenzen der Vorhersagbarkeit und zur Erkenntnis, dass sich eben doch nicht alle Wetter- bzw. Niederschlagsphänomene minutengenau vorhersagen lassen.
Trotz aller Anstrengungen darf natürlich nach den erfolgreich betreuten Trainings- und Qualifikationsläufen ein umso geselligeres Beisammensein und Feedback in erleichterter und befreiter Atmosphäre nicht fehlen.
Die Expertise des KIT-Meteorologen ist auch bei anderen Sportveranstaltungen gefragt
Seit einigen Jahren schon unterstützt Bernhard Mühr Teams im Automobilrennsport. Neben den 24-Stunden-Rennen in Spa-Francorchamps und auf der Nordschleife des Nürburgrings ist seine Wetterexpertise auch bei den Deutschen Tourenwagen Masters gefragt.
Doch Mühr ist nicht nur im Motorsport tätig. Bei den Olympischen Winterspielen im russischen Sotschi im Februar 2014 versorgte der Meteorologe zusammen mit seinem Kollegen Georg Müller von der Wetterzentrale das deutsche Team mit aktuellen Wetterdaten. Bis zu 72 Stunden im Voraus konnten die Sportler die vier Mal am Tag aktualisierten Wetterprognosen online als Karten, Diagramme und Tabellen vor Ort abrufen. Im Jahr zuvor freuten sich die deutschen Segelflieger über genaue Wetterinformationen bei ihrer Weltmeisterschaft in Argentinien.