Die Covid-19-Pandemie ist durch einen Infektionsverlauf gekennzeichnet, der Zeit braucht. Anders als etwa bei einem Erdbeben ist es daher möglich, auf den Verlauf der Katastrophe selbst Einfluss zu nehmen. Durch Kontaktbeschränkungen, Hygieneregeln und Umstellungen im Arbeits- und Freizeitverhalten kann die Verlaufskurve „abgeflacht“ werden, um eine Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden.
Wie gut das gelingt, ist allerdings in einem erheblichen Ausmaß von einem genauen und aktuellen Wissen über das Infektionsgeschehen abhängig. Erst eine in Zeit und Raum gut aufgelöste Datenlage erlaubt Politik und Behörden sowie einzelnen Bürgerinnen und Bürgern ein krisenadäquates Verhalten.
In Deutschland konnte einer ungebremsten Ausbreitung des SARS-CoV-2-Virus durch weitreichende Gegenmaßnahmen in der ersten Jahreshälfte 2020 („Lockdown“) erfolgreich entgegengewirkt werden. Der Erfolg dieser Intervention ist beachtlich, hat aber dazu geführt, dass zeitweise mehr über die Folgen dieser Einschränkungen diskutiert wird, als über die des Virus selbst. Da die Gegenmaßnahmen eingeübte Routinen und Verläufe vielfach unterbrechen oder in andere Bahnen lenken, belasten sie selbst wiederum Wirtschaft, Bildungssystem und Alltagsleben. Man darf dabei aber nicht aus den Augen verlieren, dass bei einem ungebremsten Verlauf der Covid-19-Pandemie neben der Morbidität und Mortalität ganz erhebliche Kosten in all diesen Bereichen entstehen würden.
Nach der ersten „Lockdown“-Phase werden ab etwas Jahresmitte die Regeln flexibilisiert, was in der Öffentlichkeit unter dem Stichwort „Lockerungen“ verhandelt wird. Diese Flexibilisierung ist kein einfacher Prozess, denn sie setzt voraus, dass auf lokaler Ebene zeitnah und angemessen gehandelt wird. Betroffen sind dabei nicht nur die lokalen Behörden, die Politikerinnen und Politiker vor Ort oder die Unternehmens- und Filialleitungen, sondern auch die Bürgerinnen und Bürger selbst. „Lockerungen“ heißt, dass die Verantwortung für das krisenadäquate Verhalten nach unten durchgereicht wird – eine Maßnahme, die den Menschen nach einiger Zeit möglicherweise gar nicht mehr so „locker“ vorkommen wird, da sie ihnen einiges abverlangt. Je nachdem wie sehr die individuellen verhaltenslenkenden Risikoeinschätzungen voneinander abweichen, könnte es auch vermehrt zu Konflikten im Alltag kommen.
Ein angemessenes Verhalten „vor Ort“ ist aber überhaupt nur möglich, wenn alle Betroffenen sich quasi „live“ über das Infektionsgeschehen in ihrer Umgebung informieren können. Zu Beginn der Pandemie wurde aber das Problem sichtbar, dass die behördliche Meldekette recht langsam war und sich insbesondere über die Wochenenden Verzerrungen in der Datenlage ergaben. Denn anders als etwa die Philippinen oder China verfügt die Bundesrepublik nicht über ein modernes „Disaster Information Management System“. Dabei handelt es sich um Infrastrukturen, in der Menschen von der lokalen Ebene ausgehend dafür bezahlt werden, dass sie im Katastrophenfalle sofort die jeweils neuesten Daten über Betroffene und Schäden in ein überregionales digitales Informationssystem eingeben.
Um dennoch möglichst rasch verlässliche und räumlich gut aufgelöste Daten zur Verfügung zu stellen, betreibt das Center for Disaster Management and Risk Reduction Technology (CEDIM) des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) zusammen mit dem Spin-Off Risklayer GmbH den interaktiven Covid-19-Explorer als Teil einer Informationsplattform für alle Arten an Naturkatastrophen. Dieser Online-Explorer erlaubt es, mit wenigen Klicks die aktuellen Zahlen zu Covid-19 abzurufen – in Deutschland bis auf Kreisebene, weltweit bis auf die Ebene von Regionen oder Bezirke.
Im Rahmen der Dezentralisierung der Gegenmaßnamen und der Verantwortungszuweisung an die Individuen durch die „Lockerungen“ ist ein solches hochauflösendes Serviceangebot von erheblicher Bedeutung. Das Instrument erlaubt es jedem Einzelnen, sich quasi tagesaktuell über die Covid-19-Entwicklung im eigenen Landkreis oder in angrenzenden Regionen zu informieren und sein Verhalten darauf einzustellen. Dabei muss natürlich berücksichtigt werden, dass von der Ansteckung bis zur Meldung durch die einzelnen Gesundheitsämter einige Tage verstreichen – die Daten also immer eine Verzögerung beinhalten. Trotzdem kann der Trend in jedem einzelnen Kreis das Verhalten der Menschen beeinflussen. Wenn man sieht, dass im Landkreis nebenan die Fallzahl plötzlich in die Höhe schnellt, kann man vermeiden, dorthin zu fahren. Damit schützt man sich nicht nur selbst, sondern auch seine Familie, seine Kolleginnen und Kollegen und seine Freunde.
Der CEDIM/Risklayer-Explorer „überspringt“ gewissermaßen die behördliche Meldekette, in dem er sich nach dem Prinzip des Crowd Sourcings die Kreis- und Gemeindedaten besorgt. Über öffentlich zugängliche „Google Tabellen“ wurde eine Plattform mit 3-Wege-Verifizierung eingerichtet, zu der bisher rund 150 Personen aus Deutschland beigetragen haben. Medien wie das ZDF, der Tagesspiegel oder Nachrichtenagenturen und Wikipedia haben die Daten wiederum in ihre Plattformen integriert. Im Prinzip funktioniert der Covid-19-Explorer daher ganz ähnlich wie ein Disaster Information Management System oder auch ein Citizen-Science-Projekt.
Um die Bedeutung aktueller und räumlich gut auflösender Daten zu erkennen, hält man sich am besten vor Augen, was der Begriff „Risiko“ im Kern bedeutet. Selbst wenn das Risiko für ein Ereignis – also etwa einen Unfall oder eine Infektion – vergleichsweise klein erscheint, wird dieses Ereignis sicher eintreten, wenn nur genügend Menschen betroffen sind oder genug Zeit vergeht. Bei Covid-19 können aus wenigen Fällen zudem schnell sehr viele werden, weil die Infektion sich leicht überträgt. Die Wirkung von Covid-19 ist auch nicht auf „Risikogruppen“ beschränkt. Diese weisen lediglich erhöhte Wahrscheinlichkeiten für schwere Verläufe auf. Prinzipiell können aber alle Menschen von solchen Verläufen betroffen werden. Der CEDIM/Risklayer-Explorer ist daher ein nützliches Tool, das jedem Einzelnen helfen kann, sich risikobewusst zu verhalten.
Text: PD Dr. Dierk Spreen (Earth System Knowledge Platform | ESKP), Dr. James Daniell & Dr. Andreas Schäfer (Karlsruher Institut für Technologie | KIT)
Referenzen
Lehmann, H. (23.04.2020). „Wir haben großes Glück, dass es so eine langsame Katastrophe ist” (Interview mit James Daniell). Der Tagesspiegel [tagesspiegel.de]. Aufgerufen am 22.05.2020.
Karlsruher Institut für Technologie – KIT. (2020, 14. März). Datenanalyse: Ausbreitung des Coronavirus in Deutschland (Pressemitteilung) [www.kit.edu]. Aufgerufen am 22.05.2020.
Weiterführende Informationen
Aufbereitung der deutschen Statistik auf Kreisebene
Aufbereitung der Statistiken auf globaler Ebene
Twitter-Meldungen der CEDIM/Risklayer-Explorers zu Corona
Center for Disaster Management and Risk Reduction Technology (CEDIM).
CEDIM ist eine interdisziplinäre Forschungseinrichtung des Karlsruher Instituts für Technologie
DOI
https://doi.org/10.2312/eskp.028
Veröffentlicht: 05.06.2020, 7. Jahrgang
Zitierhinweis: Spreen, D., Daniell, J. & Schäfer, A. (2020, 5. Juni). Hochauflösende und tagesaktuelle Covid-19-Informationen. Earth System Knowledge Platform [www.eskp.de], 7. doi:10.2312/eskp.028