Mehr als 50.000 Menschen mussten sich in Texas und Louisiana fernab ihres Zuhauses durchschlagen, alles stehen und liegen lassen. Der Wirbelsturm wütete auf dem küstennahen Festland mit Spitzenböen bis zu 212 km/h (Port Aransas). Doch es waren die schier unermesslichen Regenmengen, die die Menschen vor Ort verzweifeln ließen. In der Regel wird ein Hurrikan über Land schnell schwächer, verliert durch erhöhte Reibung und ohne Feuchte- und Wärmezufuhr vom Meer her rasch an Energie. Dieser Hurrikan verlagerte sich jedoch nach dem Landgang kaum weiter, wirbelte ungewöhnlich lange über demselben Gebiet und bezog dabei beständig weiter energiereiche Luft vom nahen Golf von Mexiko in seine Zirkulation ein.
Schon lange bevor Harvey auf Texas traf, war der Wirbelsturm auf dem Atlantik unterwegs: Bereits mehr als zwei Wochen zuvor, am 13.08.2017, bildete sich eine tropische Welle südwestlich der Inselgruppe der Kapverden. Diese tropische Welle verlagerte sich dann rasch über den tropischen Atlantik westwärts. Eine tropische Depression bildete sich (ein Gebiet mit niedrigem Luftdruck und etlichen Gewitterclustern). Am 17.08.2017 organisierten sich die Gewitter schließlich zu einem Tropensturm. Dieser überquerte die Kleinen Antillen (Barbados) und erreichte die Karibik. Dort allerdings schwächte sich der Sturm stark ab und löste sich fast vollständig auf. Nachdem die Reste des Sturms die mexikanische Halbinsel Yucatan überquert hatten, trafen sie auf überaus günstige Entstehungsbedingungen im Golf von Mexiko. Harvey reorganisierte sich, und nahm derart stark an Fahrt auf, dass er sich zu einem Hurrikan der Kategorie 1 intensivierte. Kurz vor seiner Ankunft an der texanischen Küste erreichte er die zweithöchste Wirbelsturmkategorie 4. Sehr warmes Oberflächenwasser von 30-31°C und eine nur sehr geringe Windscherung ließen Harvey wieder erstarken.
Rockport (Texas) und seine 10.000 Einwohner bekamen als erste Stadt an der amerikanischen Golfküste die volle Wucht des Hurrikans am 26.08.2017 zu spüren. Der Hurrikan wurde mit seinem Zentrum fast stationär, seine Regengebiete und Regenbänder führten zu Niederschlägen biblischen Ausmaßes. Die Intensitäten erreichten Werte von 100 bis 200 mm pro Stunde. Insgesamt kamen im Südosten von Texas und im Süden von Louisiana örtlich Niederschlagssummen von mehr als 1200 mm innerhalb von 4 bis 5 Tagen zusammen. Zum Vergleich: Am Internationalen Flughafen von Houston fällt normalerweise in einem ganzen Monat August eine Regenmenge von gerade einmal 96 mm – Harvey brachte dort 771 mm Regen innerhalb weniger Tage.
Beständige und blockierende Hochdruckgebiete über dem Nordwesten und dem Osten der USA ließen eine rasche Verlagerung des Wirbelsturms nicht zu, seine Einwirkzeit dauerte so einige Tage über den immer selben Gebieten, für die er zu einer Regenmaschine wurde. Auch die Pegel etlicher Flüsse im Südosten von Texas und in Teilen Louisianas erreichten neue Rekordstände und pulverisierten bisherige Höchststände mancherorts gleich um mehrere Meter.
Eine der 10 teuersten Naturkatastrophen weltweit
Nahezu 30 % der Fläche des Harris County, in dem auch Houston liegt, standen unter Wasser. Die Metropolregion Houston erlebte in den vergangenen Jahrzehnten eine rasante Entwicklung, und mit über 4,5 Millionen Einwohnern liegt Harris County der Einwohnerzahl nach auf Platz 3 der USA. Forscher des Center of Disaster Management and Risk Reduction Technology (CEDIM), einer interdisziplinären Forschungseinrichtung des Karlsruher Instituts für Technologie im Bereich des Katastrophenmanagements, schätzen die zu erwartenden Schäden auf 58 Milliarden US-Dollar – allein für Texas. Damit gehört Harvey schon jetzt zu den zehn teuersten Naturkatastrophen seit dem Jahr 1900 weltweit. Und die Kosten könnten je nach Wetterentwicklung noch bis auf über 80 Milliarden steigen.
90 % der von Harvey bislang verursachten Zerstörungen sind Folge von Überflutungen. Nur etwa 10 % der berechneten Schäden wurden durch die hohen Windgeschwindigkeiten verursacht. Am stärksten betroffen sind Wohnimmobilien, für die die Schadenssumme auf 19 Milliarden Dollar geschätzt wird. Für die Zerstörungen an nicht-privaten Gebäuden und Einrichtungen sowie der Infrastruktur belaufen sich die ersten Schadenschätzungen der CEDIM-Forscher auf 18 Milliarden Dollar, bei Gewerbeimmobilien auf 16 Milliarden. Insgesamt 250.000 Grundstücke könnten in Mitleidenschaft gezogen worden sein. Bei weitem nicht alle Schäden sind versichert, vermutlich sogar weit weniger als die Hälfte. Der Immobilienbestand im Staat hat aktuell einen Gegenwert von 4,5 Billionen US-Dollar. Etwa ein Prozent dieses Kapitals ist betroffen. Kalkulieren die Wissenschaftler die Kosten für den Wiederaufbau mit ein, summieren sich die Belastungen auf drei Prozent des Bruttoinlandprodukts.
Erstellt wurden diese Werte mithilfe eines in CEDIM entwickelten Risikoschadenmodells, das die direkten ökonomischen Schäden nach einer Naturkatastrophe berechnet und bereits erfolgreich bei vergangen CEDIM-Forschungsaktivitäten wie dem Tohoku-Erdbeben in Japan oder dem Taifun Haiyan über den Philippinen angewendet wurde. Zentraler Bestandteil des Modells ist eine der weltweit größten Naturkatastrophen-Datenbanken mit über 60.000 Einträgen (CATDAT), die in den letzten Jahren von CEDIM-Mitarbeitern aufgebaut wurde. CATDAT greift auf sozioökonomische Indikatoren wie Gebäudedaten, Human Development Index oder Bruttoinlandsprodukt zurück. Das Schadenmodell unterstützt Regierungen und Hilfsorganisationen bei der Abschätzung des Ausmaßes einer Katastrophe und beim Katastrophenmanagement.
Indirekte Schäden wie beispielsweise Betriebsausfälle, Kosten für provisorische Maßnahmen, zerstörte Infrastruktur oder der Anstieg des Rohstoff- oder Warenpreise, werden weiter zu Buche schlagen. Mehr als ein Fünftel der Öl- bzw. Gasförderung der USA kam zum Erliegen. Die größte Raffinerie der USA in Port Arthur musste wegen der Überflutungen und Stromausfällen am 30. August schließen. Insgesamt waren rund 300.000 Menschen ohne Strom.
Weiterführende Informationen
Eine erste Zusammenfassung der Geschehnisse und eine detaillierte Beschreibung der Schadenschätzungen finden Sie online im CEDIM-Bericht zu Hurrikan Harvey. Link
Ausführliche meteorologische Informationen zu Harvey. Link
Daten- und Textgrundlage:
Center for Disaster Management and Risk Reduction Technology (CEDIM).
CEDIM ist eine interdisziplinäre Forschungseinrichtung des KIT.