Wolfgang Raskob, Leiter der Arbeitsgruppe Unfallfolgen des Instituts für Kern- und Energietechnik am Karlsruher Institut für Technologie (KIT), entwickelte federführend das Simulationsprogramm RODOS (Real-time Online DecisiOn Support System). Er ist Mitte März 2016 erneut in der Provinz Fukushima gewesen und hat sich ein aktuelles Lagebild vor Ort machen können. Im Interview erklärt er das Entscheidungsunterstützungprogramm und beurteilt die Lage in Japan im Hinblick auf die radioaktive Kontamination an Land, im Meer und in verschiedenen Nahrungsmitteln.
Das Programm RODOS wird seit mehr als 20 Jahren in mehr als 10 Ländern in Europa eingesetzt. Können Sie uns das Programm erläutern?
Das Entscheidungshilfesystems RODOS unterstützt Entscheidungsträger und Berater, die im Ernstfall unter hohem Zeitdruck und großer psychischer Belastung stehen, bei der Entscheidungsfindung zum optimalen Schutz der betroffenen Bevölkerung und der Einsatzkräfte. Es enthält Simulationsmodelle, für die Ausbreitung von radioaktiven Substanzen in der Atmosphäre und im Wasser. Weiterhin berechnet es die anfallende Dosisbelastung und analysiert die verschiedensten Schutz- und Gegenmaßnahmen auf ihre Anwendbarkeit und Effektivität. Das System ist in allen Unfallphasen einsetzbar und unterstützt auch die Maßnahmen, die für das langfristige und sichere Leben in kontaminierten Gebieten notwendig sind.
Woher kommen die Eingangsdaten? Gibt es ein weltweit verteiltes Messnetz, um Radioaktivität zu messen?
Eingangsdaten sind typischerweise die Information des Quellterms (also was aus der Anlage freigesetzt wird) und der vorherrschenden Meteorologie, die einerseits aus meteorologischen Messungen der Anlage kommen oder vom nationalen Wetterdienst bereitgestellt werden. Darüber hinaus gibt es um die Anlage und auch weltweit ein Dosisleistungsmessnetz, mit denen dann Simulationen verglichen werden können. Damit wird versucht (also Vergleich der Simulation mit den Messwerten) den sehr schwierig zu prognostizieren Quellterm genauer abzuschätzen.
Welche Handlungsempfehlungen gibt das Programm und wie schnell sind diese nach einem Nuklearunfall verfügbar?
Das System kann innerhalb weniger Minuten erste Ergebnisse liefern. Typischerweise werden die frühen Maßnahmen wie Evakuierung, Aufsuchen von Häusern und Einnahme von Jodtabletten zuerst untersucht. In einem zweiten Schritt werden auch landwirtschaftliche Maßnahmen und die Dekontamination von hoch belasteten Gebieten betrachtet.
Was hat sich nach dem Unfall in Fukushima in Japan im Hinblick auf den Bevölkerungsschutz in Deutschland verändert?
In Deutschland wurden alle Maßnahmen des Bevölkerungsschutzes auf den Prüfstand gestellt und ein Ergebnis ist, dass jetzt die Planungsradien für die Evakuierung der Bevölkerung von 10 auf 20 km vergrößert wurden. Weiterhin wurden auch die Gebiete, die für die Verteilung von Jod-Tabletten vorgesehen sind, auf ganz Deutschland ausgedehnt. Diese Maßnahmen erhöhen die Sicherheit, da allein eine gute Planung ein Garant für den Erfolg einer Maßnahme ist.
Welche Strahlungsbelastung in Luft, Boden, Grund- und Meerwasser gibt es 5 Jahre nach dem Reaktorunglück noch in Japan?
Es gibt immer noch die gesperrten Gebiete, in denen die Strahlenbelastung so hoch ist, dass ein Leben dort zurzeit nicht möglich ist. Diese Gebiete verkleinern sich von Jahr zu Jahr. Allerdings ist dieser Prozess deutlich langsamer als ursprünglich geplant. Außerhalb dieser Gebiete ist die Strahlenbelastung mit der in Deutschland vergleichbar. Z.B. in Fukushima zeigt die Messstation in der Nähe des Bahnhofes etwa 0,15 micro Sievert an. Das sind Werte, die etwa 50% über denen in Deutschland liegen, aber deutlich niedriger sind als in einigen Gegenden von Finnland. Die Kontamination des küstennahen Meeres ist gering, ebenso wie die der Flüsse – außerhalb der hoch belasteten und gesperrten Gebiete.
Inwieweit sind andere Länder wie Kanada oder auch die USA (Alaska, Kalifornien) von der Ausbreitung radioaktiven Meerwassers heute noch gefährdet?
Diese Länder können die erhöhte Kontamination messen – insbesondere im Meer, aber sie liegt sehr deutlich unterhalb aller Grenzwerte und stellt kein Risiko für die Bevölkerung dar. In der Atmosphäre kann man keine Erhöhung messen.
Wie hoch ist heute noch die Strahlungsbelastung bei Obst, Gemüse, Milch-, Fleisch- und Fischprodukten in der Region und im Pazifik?
Es gibt immer noch kontaminierte Nahrungsmittel in Japan, aber diese werden nicht in den Verzehr gebracht. Alle Produkte, die in potentiell kontaminierten Gebieten wie der Provinz Fukushima, angebaut werden, werden auf die Strahlenbelastung untersucht bevor sie verkauft werden. Im Jahr 2015 gab es keinen Sack Reis oberhalb des Grenzwertes. Einzig der Fisch in Küstennähe kann noch höher kontaminiert sein. Aber auch hier wird alles kontrolliert.
Sie waren gerade in Fukushima. Was sind die Erkenntnisse/Eindrücke Ihrer Reise?
Zwiespältig. Zum einen sieht man den Fortschritt, aber die Dekontamination der belasteten Gebieten geht sehr langsam voran. Vollkommen ungelöst ist das Problem des Abfalls. Die Rückstände der Dekontamination, also z.B. der abgetragene Oberboden wird nur lokal gelagert. Das bedeutet, dass also Dörfer Abfallhalden haben, die zum einen soweit vom Dorfzentrum entfernt sein müssen, dass sie keine Gefahr für die Bewohner darstellen, andererseits aber die Landschaft verschandeln. Auch haben die Rückkehrer das Problem, dass ihr vorheriger Arbeitgeber vielleicht nicht mehr da ist und somit ein Einkommen nicht garantiert ist. So zahlt Tepco Entschädigungen für die Umsiedlung, aber sobald die Bewohner zurück kommen, erlischt die Zahlung. Zusammenfassend kann man feststellen, dass die Provinz Fukushima noch lange mit den Nachwehen der Katastrophe zu kämpfen hat. Und das nicht alleine mit den Auswirkungen der Radioaktivität, sondern auch mit denen des Erdbebens und des Tsunami.
Das Interview führte Dr. Ute Münch, Wissensplattform "Erde und Umwelt"