Die Bilder gingen um die Welt. Im April 2010 entwichen aus einem Bohrloch unterhalb der Plattform "Deepwater Horizon" im Golf von Mexiko plötzlich große Mengen an Methangas. Dieser sogenannte Blow-Out führte zu einer Explosion, bei der elf Menschen starben. Wochenlang strömte danach Öl aus dem beschädigten Bohrloch ins Meer. Glücklicherweise sind solche katastrophalen Blow-Outs eher selten. Kontinuierliche Austritte geringerer Gasmengen aus aktiven oder alten, verlassenen Bohrlöchern sind dagegen häufiger. Ein Forscherteam des GEOMAR Helmholtz-Zentrums für Ozeanforschung Kiel und der Universität Basel erhob Daten, die darauf schließen lassen, dass Gasaustritte, die entlang der Außenseite von Bohrlöchern entweichen, ein deutlich größeres Problem darstellen könnten als bisher angenommen. Diese Art der Leckage (unkontrollierter Gasaustritt) wird derzeit weder von Betreibern noch Regulatoren betrachtet, könnte aber ebenso bedeutsam sein wie die Austritte aus beschädigten Bohrlöchern selbst, welche meist schnell erkannt und repariert werden. „Wir haben hochgerechnet, dass Leckagen rund um Bohrlöcher eine der Hauptquellen für das Methan in der Nordsee sein könnten“, sagt Dr. Lisa Vielstädte vom GEOMAR, die Hauptautorin der Studie.
Bei mehreren Expeditionen zu Öl- und Gaslagerstätten in der zentralen Nordsee in den Jahren 2012 und 2013 haben die Forschenden rund um verlassene Bohrlöcher Methanaustritte entdeckt. Das Gas stammt aus flachen Gastaschen, die weniger als 1.000 Meter unter dem Meeresboden liegen. Bei Bohrungen zu tiefer liegenden, wirtschaftlich interessanten Lagerstätten werden sie einfach durchstoßen. Diese Gastaschen sind meistens auch keine Gefahr für die Bohrungen an sich. Aber offenbar sorgt die Störung des Untergrundes dafür, dass rund um das Bohrloch Gas zum Meeresboden aufsteigen kann.
Seismische Daten vom Untergrund der Nordsee belegten, dass rund ein Drittel der Bohrlöcher durch flache Gastaschen gebohrt wurden und somit die Bedingungen erfüllen, um Methanquellen in der Umgebung zu erzeugen. Bei mehr als 11.000 Bohrungen in der Nordsee ergibt das eine entsprechend große Menge an potenziellen Methanquellen. Hochrechnungen des Forscherteams ergaben, dass entlang der existierenden Bohrlöcher zwischen 3.000 und 17.000 Tonnen Methan pro Jahr aus dem Meeresboden austreten. Dies wäre ein signifikanter Anteil am gesamten Methanbudget der Nordsee.
Treibhausbudget von Erdgas neu überdenken
Im Meerwasser wird Methan normalerweise mikrobiell abgebaut, was in der näheren Umgebung zu einer lokalen Versauerung führen kann. In der Nordsee liegt etwa die Hälfte der Bohrlöcher in so geringen Wassertiefen, dass das am Meeresboden austretende Methan die Atmosphäre erreichen kann. Annähernd 42 Prozent des austretenden Methans könnten, laut numerischen Modellen, die Atmosphäre, direkt oder indirekt erreichen. Direkt durch den Aufstieg von Gasblasen oder indirekt, wenn sich Methan diffus im Oberflächenwasser des Meeres löst und dann langsam in die Atmosphäre übertritt. Dort entfaltet es als Treibhausgas eine deutlich größere Wirkung als Kohlendioxid. „Erdgas, also Methan, wird oft als der fossile Brennstoff gepriesen, der für den Übergang von Kohlenutzung zu regenerativen Energien am besten geeignet ist. Wenn Bohrungen nach Gas aber global zu so großen Methanemissionen in die Atmosphäre führen, müssen wir das Treibhausbudget von Erdgas neu überdenken“, resümiert Dr. Haeckel, der Initiator der Studie. Um den menschlichen Einfluss auf das Methanbudget der Nordsee noch genauer beziffern zu können, wird das Kieler Forschungsschiff POSEIDON im Oktober 2017 weitere Gasquellen im Umfeld von Bohrlöchern in der Nordsee untersuchen.