Woran liegt der extreme Rückgang des Meereises in der Arktis in den vergangenen Jahren?
Dr. Marcel Nicolaus: Die Abnahme des Meereises in der Arktis ist ganz klar eine Frage der Erwärmung. Es ist dort wärmer als noch vor 30 oder 40 Jahren.
Bereits in den Jahren 2007 und 2012 wurde ein starker Rückgang des Meereises in der Arktis verzeichnet. Ist die Situation in diesem Jahr etwas Besonderes?
Ich würde nicht sagen, dass 2014 ein besonderes Jahr ist. Es ist eher so, dass 2014 die Beobachtungen, die wir in den vergangenen zehn Jahren gemacht haben, bekräftigt. Wir erreichen jetzt keinen Rekord oder besonderen Wert. Man kann andererseits aber auch nicht sagen, dass das System normal ist, nur weil der Wert dem des Vorjahres (2013) ähnlich ist. Es ist von Jahr zu Jahr eine starke Schwankung vorhanden, die wir seit Jahren beobachten. Diese führt letztlich zu dem Ergebnis, das wir in diesem Jahr haben.
In der Antarktis hat das Meereis zugenommen. Wie kommt es zu solch unterschiedlichen Ergebnissen in Arktis und Antarktis?
Zum einen haben wir diese starke Erwärmung, wie wir sie in der Arktis haben, in der Antarktis nicht. Das liegt vor allem an der geografischen Lage. In der Arktis haben wir einen zentralen Ozean, der rundum von Landmassen umgeben ist. In der Antarktis haben wir in der Mitte einen sehr kalten Kontinent mit einem dicken Eispanzer. Drumherum liegt das Meereis und im Weiteren ein Gürtel des offenen Ozeans. Die atmosphärischen Bedingungen, also Luftzirkulation und Temperaturen sowie die ozeanografischen Bedingungen wie Wassertemperatur und Vermischung von Wassermassen, unterscheiden sich in den beiden Gebieten sehr stark.
Ist in der Zukunft mit einer eisfreien Arktis zu rechnen?
Es ist durchaus realistisch. Wobei wir bei dem Wort „eisfrei“ immer vom Sommer reden müssen. Wir werden, zumindest so lange wir jetzt voraus denken können, auf jeden Fall im Winter immer Meereis, einen komplett überfrorenen arktischen Ozean haben. Im Winter wird das Eis also da sein. Wenn sich die Trends der vergangenen Jahre fortsetzen, dann will ich nicht ausschließen, dass wir zum Ende des Jahrhunderts Jahre haben werden, in denen im Sommer kein Meereis vorhanden ist. Es kann allerdings auch anders kommen. Hierzu können wir keine Prognosen geben. Es gibt Computermodelle, die eine solche eisfreie Arktis voraussagen und es gibt welche, die sagen sie nicht voraus. Grundsätzlich besteht aber die Möglichkeit einer eisfreien Arktis im Sommer.
Welche Konsequenzen haben die Veränderungen in der Arktis für uns in Europa und hier insbesondere für Deutschland?
Es gibt hier verschiedene Aspekte, die wir betrachten müssen. Bezogen auf das Klima lässt sich sagen, dass die Veränderungen des Meereises in der Arktis auch einen Einfluss auf unser Wettergeschehen in Deutschland haben. Allerdings gibt es keine einfachen Gleichungen und Schlussfolgerungen wie etwa: halb so viel Meereis bedeutet 2 bis 3 Grad Celsius mehr im Sommer. Aber die Frage, wie viel Meereis bedeckt aktuell die Arktis, hat sehr viel damit zu tun, wie die Zirkulationsmuster in der Atmosphäre aussehen, ob sich die Wärme und Energie stärker zwischen Nord und Süd austauscht oder eher um die Arktis im Kreis dreht. Es gibt aber offensichtliche Einflüsse auf unser Wetter hier in Mitteleuropa.
Des Weiteren sind wir als große Industrienation natürlich sehr stark am Austausch von Waren weltweit, insbesondere auch mit Asien, interessiert. Es wird darum gehen, wie viel mehr Schiffsverkehr wir in der Arktis in der Zukunft erwarten können, da sich dieser bisher geschlossene Ozean nun offen für Handelswege öffnet. Es muss keinen riesen Boom geben, aber es entstehen auf jeden Fall neue ökonomische Möglichkeiten und Begehrlichkeiten, die uns als Wirtschaftsnation auf jeden Fall betreffen.
Der dritte Aspekt ist das Ökosystem. Wir sind meiner Ansicht nach als einer der wohlhabendsten Nationen in der Pflicht, uns um den Schutz von Ökosystemen wie dem Arktischen zu bemühen, auch wenn es nicht unmittelbar vor unserer Haustür liegt. Wir können sehr gut dazu beitragen, einerseits ein globales Verständnis und Aufmerksamkeit für die dortigen Probleme zu erreichen. Andererseits können wir in internationalen Gremien und Kooperationen dazu beitragen, wie man ein solches System bestmöglich schützen kann.
Es gibt die satellitengestützte Vermessung. Sind Sie zudem vor Ort unterwegs und messen im Eis vor Ort?
Wir haben hier in unserer Sektion einen Bereich, der sich mit Meereismessungen in der Arktis und Antarktis befasst. Unsere tägliche Arbeit besteht in der Tat aus Messungen vor Ort. Wir nutzen zum Beispiel die „POLARSTERN“, den deutschen Forschungseisbrecher, um ins Meereis der Arktis und Antarktis zu fahren und dort Messungen vorzunehmen. Denn auch wenn es Satellitendaten gibt und wir diese Bodenmessungen nach wie vor brauchen, um Verfahren zu entwickeln und zu verbessern wie Messungen vom Satelliten ausgewertet und analysiert werden können. Denn der Satellit misst zum Beispiel nicht die Eisdicke per se, sondern er misst nur den Teil des Eises, der aus dem Wasser ragt, von dem dann Rückschlüsse auf die Eisdicke gezogen werden können. Der Satellit misst auch nicht die Eiskonzentration oder die Eisausdehnung an sich, sondern er misst Oberflächeneigenschaften von Wasser und von Eis, die sich unterscheiden. Um solche Algorithmen erstens überhaupt zu erstellen und zweitens zu verbessern und weiterzuentwickeln, benötigen wir Beobachtungen vor Ort.
Die Arktis liegt in internationalen Gewässern. In wieweit arbeiten Sie mit internationalen Kollegen/Instituten zusammen?
Sehr viel und sehr intensiv. Unsere Polarforschungsexpeditionen basieren eigentlich immer auf internationalen Kooperationen. In der Regel kommt auf einem deutschen Forschungseisbrecher der Großteil der Expeditionsteilnehmer aus Deutschland oder von deutschen Instituten. Aber wir nehmen auch an Expeditionen internationaler Partner, z.B. aus Norwegen oder Kanada teil und nehmen diese auch bei uns an Bord. Diese Expeditionen und Messungen sind sehr aufwendig und teuer. Internationale Netzwerke sind daher sehr dringend notwendig.
Das Interview führte Karl Dzuba, Wissensplattform Erde und Umwelt.