Mehrere hundert Meter tief ragen die Granitwände in den Comau-Fjord an der Westküste Chiles hinein. Für Dr. Jürgen Laudien vom Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) ist das Gebiet in Patagonien am anderen Ende der Welt für mehrere Wochen im Jahr sein Arbeitsplatz. Drei Steinkorallenarten (Desmophyllum dianthus, Caryophyllia huinayensis und Tethocyathus endesa) sind für den Meeresbiologen die Objekte des Interesses. Die Kaltwasserkorallen sind in diesen Gewässern bereits in wenigen Metern Wassertiefe zu finden. Ein Novum, finden sich diese Spezies doch normalerweise in Tiefen zwischen 200 und 2.000 Metern. Für Laudien und seine Wissenschaftlerkollegen ein unsagbarer Vorteil, können sie somit doch persönlich zu den Korallen hinabtauchen und sich logistisch aufwendige und kostenintensive Tiefseetauchgänge sparen.
Quasi eine Zeitreise in die Zukunft
Der vom Menschen verursachte weltweite Anstieg von Kohlendioxid (CO2) lässt die Ozeane saurer werden und möglicherweise Ökosysteme kollabieren. Das von den Ozeanen aufgenommene CO2 reagiert mit dem Meerwasser zu Kohlensäure und der pH-Wert (Maß für den sauren oder basischen Charakter) im Meerwasser sinkt. Die chilenischen Kaltwasserkorallen sind wahre Überlebenskünstler, denn das Wasser im Comau-Fjord ist mancherorts eigentlich viel zu sauer, als das sie hier überleben dürften. Der pH-Wert liegt an manchen Standorten unter 7,6, während er außerhalb des Fjords und im offenen Pazifik bei über 8 liegt. Das klingt zunächst nach keinem großen Unterschied, doch muss man wissen, dass der pH-Wert auf einer zehnerlogarithmischen Skala aufgetragen wird, so dass dies ein sehr deutlicher Unterschied ist. Die Korallen finden im Comau-Fjord mancherorts Bedingungen vor, wie sie eigentlich erst für das nächste Jahrhundert im Zuge des Klimawandels vorhergesagt werden. Die Wissenschaftler unternehmen quasi eine Zeitreise in die Zukunft.
Am 15. März 2016 wird Laudien mit vier weiteren Wissenschaftlern des AWI zum wiederholten Male die Reise nach Chile antreten, um dort mit seinen chilenischen Kollegen die Entwicklung der Korallen seit seinem letzten Besuch im Januar und Februar 2015 in Augenschein zu nehmen. Die Kernfrage der Wissenschaftler lautet: Wie schaffen es die Korallen in dieser unwirtlichen Umgebung nicht nur zu überleben, sondern auch zu wachsen? „Wir haben Versuchstiere der drei Steinkorallenarten aus dem Fjord in das umliegende Gewässer mit einem höheren pH-Wert verpflanzt und umgekehrt“, sagt Laudien. „Wir wollen sehen, ob Tiere, die über die vergangenen 13 Monate in augenscheinlich günstigeren Wasserbedingungen lebten, höhere Zuwachsraten haben, als Tiere, die in saurerem Wasser lebten“, fügt der AWI-Wissenschaftler an. Laudien und seine Kollegen vermuten, dass diese Korallenarten ihr internes Milieu regulieren können und sich daher bis zu einem gewissen Grad von dem Umgebungswasser unabhängig machen können. Das Tauchteam wird zudem eine 8,5 km lange Küste, an der es 2012 ein Korallenmassensterben gegeben hat, besuchen und nun jährlich Unterwasserfotos aufnehmen. Im vergangenen Jahr wurden die ersten Jungkorallen entdeckt.
Nach der Rückkehr ins heimische Bremerhaven am 28. April werden die Wachstumsraten der Versuchskorallen errechnet und interpretiert. Die Unterwasserfotos sollen umgehend im Rahmen einer Masterarbeit ausgewertet werden. Auf der Agenda der Arbeitsgruppe steht weiterhin, dass Messungen mittels Mikrosensoren direkt am Ort der Kalkablagerung bei lebenden Korallen in der Experimentalaquarienanlage des AWI durchgeführt werden.
Diese Daten sollen helfen, die Funktion und Prozesse innerhalb des noch weitgehend unbekannten Kaltwasserökosystem der chilenischen Fjordregion besser zu verstehen. In jüngster Vergangenheit breiten sich im Süden Chiles unzählige Lachsfarmen aus, deren Einfluss den des Klimawandels und der damit einhergehenden Ozeanversauerung noch verstärkt. Durch ihre dreidimensionale Struktur sind die Korallenbänke jedoch ein wichtiger Lebensraum für eine sehr artenreiche Tierwelt, unter anderem auch für kommerziell genutzte Fische. Entsprechend wichtig ist der Schutz dieser einzigartigen Kaltwassersteinkorallenbänke.
Text: Karl Dzuba, Earth System Knowledge Platform | ESKP; fachliche Durchsicht: Dr. Jürgen Laudien, Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung | AWI
Veröffentlicht: 15.03.2016, 3. Jahrgang
Zitierhinweis: Dzuba, K. (2016, 15. März). Blick in die Zukunft durch die Tauchmaske. Earth System Knowledge Platform [eskp.de], 3. https://www.eskp.de/klimawandel/blick-in-die-zukunft-durch-die-tauchmaske-935780/